
[Translate to English:] Die mentalen Hürden gemeistert
Lerne von LEA SPRUNGER:
Jeder von uns ist schon einmal gescheitert. Die bitteren Tränen der Enttäuschung gehören zu den meisten Lebensläufen wie die Jubelfeier nach einem süssen Sieg. Entscheidend ist, dass man die richtigen Erkenntnisse aus Misserfolgen zieht, wieder aufsteht und weiter an sich arbeitet. Wer vor einer grossen Aufgabe steht, sollte sich auf seine Stärken besinnen und an die vielen Hürden denken, die er oder sie bereits gemeistert hat.
Wenn jemand weiss, wie man Hindernisse überwindet, dann ist es Lea Sprunger. Mitunter türmen sich die zehn Hürden im Abstand von 35 Metern zu einer Wand, die selbst für die Spezialistin mit den unendlich langen Beinen zur Herausforderung werden. Zwei Schlüsselerlebnisse haben die Schweizer Rekordfrau über 400 m Hürden und 400 geprägt, ja erst zur Weltklasse-Athletin gemacht, die sie heute ist.
Der Körper will, der Kopf nicht
Olympische Spiele 2016 in Rio de Janeiro: Als frisch gebackene EM-Bronzemedaillengewinnerin auf Bahn eins angetreten, musste Lea Sprunger die Segel bereits im Vorlauf streichen. Die Form war da, die Überzeugung nicht. Obwohl die Romande vom COVA Nyon vier Jahre zuvor über 200 m und mit der 4×100-m-Staffel schon Olympiaerfahrungen hatte sammeln können, fühlte sie sich der Situation nicht gewachsen. Über Jahre hatte die Junioren-EM-Bronzemedaillengewinnerin im Siebenkampf ihren Körper auf diesen Moment vorbereitet – nicht aber den Kopf. Während sie im Training beissen kann wie keine andere, versagten im wichtigsten Rennen die Nerven.
Lea Sprunger und ihr Trainer Laurent Meuwly erkannten die Ursache. Ein Mentalcoach sollte helfen. Umso mehr, als sich das Problem 2017 an den darauffolgenden Hallen-Europameisterschaften in Belgrad über 400 m zu manifestieren schien. In Führung liegend, brach Europas schnellste 400-m-Läuferin auf der Zielgeraden dermassen ein, dass es sogar ihren Finalgegnerinnen leidtat. «Vielleicht bin ich nicht geschaffen für diesen Sport», rang die Fünftplatzierte nach Erklärungsversuchen.
Zwei Gesichter auf und neben der Bahn
Diese Aussage überrascht. Denn Lea Sprunger hat sich in den letzten 13 Jahren von der «Petite», wie sie von ihrer älteren Schwester Ellen liebevoll genannt wird, zur Leaderin in Meuwlys Trainingsgruppe entwickelt. Gleiches gilt für die Nationalteams von Swiss Athletics. «Lea war und ist eine, die ihre Vorbildrolle wahrnimmt, eine, die genau weiss, was und wohin sie will und andere mitzuziehen vermag», bestätigt der Freiburger Erfolgscoach in Diensten des niederländischen Verbandes. Auf internationalem Parkett indes machte sie sich bisweilen kleiner, als es ihre Körpergrösse (1,83 m) vermuten lässt. «Aufgewachsen mit drei Geschwistern, bin ich es mir gewohnt, zu teilen und auf andere Rücksicht zu nehmen. Im Spitzensport hingegen sind andere Eigenschaften gefragt.»
Ob an nationalen, kontinentalen oder globalen Titelkämpfen: Wenn es um die Medaillen geht, muss Lea Sprunger Egoistin sein. Etwas, das ihrem Naturell nicht unbedingt entspricht. «Am wohlsten fühle ich mich zu Hause im Kreis der Familie oder bei meinen Freunden. Hier kann ich abschalten, meine Batterien aufladen und die Person sein, die ich wirklich bin.» Noch heute fällt es der Waadtländerin aus dem beschaulichen Gingins schwer, an Wettkämpfen in die Rolle der selbstbewussten, unerschütterlichen Superathletin zu schlüpfen. «Unterdessen habe ich aber gelernt, in Drucksituationen auf mich und meine Stärken zu vertrauen.»
London und Berlin als Erlösung
Ein halbes Jahr nach dem Trauma in Belgrad geht Lea Sprunger an den Weltmeisterschaften in London 2017 mit einem anderen Mindset an den Start. Sie freut sich auf die grosse Bühne, hat keine Angst vor klingenden Namen. Stattdessen konzentriert sie sich nur auf sich, ihren Rhythmus, ihre Bahn. In ihrem ersten WM-Final stürmt sie auf den fünften Rang. Es ist die Bestätigung, dass sie es kann, wenn es zählt – und an sich glaubt. Ihr langjähriger Trainer hat es seit Juniorentagen getan, wobei die neunfache Schweizer Elite-Meisterin ihrerseits von einem «steten Prozess» spricht.
Dank Resilienz und viel Selbstreflexion liefert sie 2018 im Berliner Olympiastadion ihre mentale Meisterleistung ab: EM-Gold über 400 m Hürden – vor 48 500 Zuschauern, darunter etliche Schweizer Fans, die bis zur letzten Hürde zittern. In den Tagen vor ihrem Coup hat sich die erste helvetische Freiluft-Europameisterin die ganze Vorbereitung nochmals in Erinnerung gerufen, jedes Training, speziell die harten Einheiten. «Das Wissen, im Vorfeld alles getan zu haben, gab mir das nötige Selbstvertrauen. Ich war mir sicher: Es musste einfach klappen.»
Zur Siegerin gereift
Seither scheint Lea Sprunger wie verwandelt. Nur acht Tage nach ihrer internationalen Titelpremiere triumphiert sie in Birmingham als erst zweite Schweizerin bei einem Meeting der Diamond League. Im Frühjahr 2019 doppelt die Hürden-Europameisterin unter dem Hallendach in Glasgow nach: EM-Gold über 400 m.
Völlig entfesselt und trotz «schwieriger Saison» bricht Sprunger sieben Monate später Anita Prottis 28-jährigen Landesrekord – und das ausgerechnet im WM-Final von Doha, ganz auf der Aussenbahn. Ihre 54,06-sekündige Parforceleistung reicht im schnellsten 400-m-Hürdenrennen aller Zeiten zwar «nur» zum undankbaren vierten Platz. Doch die Westschweizerin weiss unterdessen: «2021 werden die Karten neu gemischt. Gelingt es mir, alle Puzzleteile zusammenzubringen, kann ich um eine Olympiamedaille kämpfen – die fehlt noch in meinem CV.» Es wäre die erste einer Schweizer Leichtathletin.
Die letzte Runde
Für das grosse Ziel ist die bald 31-Jährige bereit, ihre Komfortzone ein letztes Mal zu verlassen, ein letztes Mal «110 Prozent» im Training zu geben, sei es in Südafrika, Magglingen, Lausanne oder im holländischen Papendal, wo die «Grande Dame» regelmässig von den «jungen Wilden» gefordert wird.
«Am Ende dieses Jahres möchte ich nichts bereuen», sagt die Athletissima- und Weltklasse Zürich-Botschafterin mit Blick auf ihre Abschiedssaison: «Wenn ich in Tokio mein bestes Rennen zeige und drei schneller sind, dann ist es so. Ich versuche das zu beeinflussen, was ich kann.» Egal, wie ihre letzte Mission endet, das in den Stadien der Welt erworbene Mindset wird Lea Sprunger über ihre Laufbahn hinaus begleiten.
>>> Inspiration-Clip mit Lea Sprunger