
[Translate to English:] Inspiration auf und neben der Bahn
Allyson Felix’ Job war es, schnell zu sein und Medaillen zu gewinnen. 17 WM- und 9 Olympiamedaillen machen sie zur erfolgreichsten Leichtathletin aller Zeiten. Seit dem 28. November 2018 ist die zweifache Siegerin der Weltklasse Zürich Inspiration Games indes nicht mehr nur Sprinterin und Olympionikin, sondern auch Mutter und Aktivistin. Ihr Leben hat dadurch eine ganz neue Bedeutung erhalten.
Lerne von Allyson Felix:
Manchmal geraten wir in Situationen, auf die wir uns nicht vorbereiten können. Situationen, die so viel grösser und bedeutsamer sind als ein Olympiafinal. In solchen Momenten müssen wir unsere Komfortzone verlassen, um uns neu zu erfinden.
Wenn Allyson Felix über die Bahn schwebt, leicht und elegant, scheint die Zeit stillzustehen. Mit ihren langen, raumgreifenden Schritten erinnert die feingliedrige Kalifornierin an ihre US-amerikanische Landsfrau Wilma Rudolph. Letztere überwand einst die Kinderlähmung, ehe sie mit 18 Jahren Mutter einer Tochter wurde und sich zwei Jahre später in Rom 1960 als dreifache Sprint-Olympiasieger verewigen sollte.
Never stop getting better
«Ich bin überzeugt, dass Frauen imstande sind, ihre beste Leistung als Mutter zu erreichen, wenn sie die notwendige Unterstützung bekommen», hat Allyson Felix im Vorfeld der Weltklasse Zürich Inspiration Games gesagt.
Die Aussage passt zum Selbstverständnis der sechsfachen Olympiasiegerin und zwölffachen Weltmeisterin. Schliesslich wäre sie nicht die meistdekorierte Leichtathletin der Geschichte, hätte sie sich 2004 und 2008 mit Olympiasilber über 200 m zufriedengegeben. Sie wollte mehr, ging gestärkt aus den Niederlagen hervor und eroberte 2012 ihr lang ersehntes Einzelgold.
Gleiche Leidenschaft, anderes Mindset
Mit der gleichen Leidenschaft – und der entsprechenden Unterstützung ihrer Familie – strebt die 35-Jährige nächste Saison ihr nunmehr zehntes Edelmetall an, notabene an ihren fünften Olympischen Spielen. Dennoch verblasst ihre einzigartige Medaillensammlung nach dem wichtigsten und einschneidendsten Ereignis: der Geburt ihrer Tochter Camryn am 28. November 2018. «Das hat mein Leben komplett verändert.»
Als Weltlasse-Athletin war sich Allyson Felix gewohnt, in Olympiazyklen zu denken. Athen 2004, Beijing 2008, London 2012, Rio 2016, Tokyo 2020, dazwischen Welttitelkämpfe alle zwei Jahre. Am Tag X musste sie bereit sein, dem Gesamtwerk das letzte Puzzleteil hinzuzufügen, wie sie es nennt. Das gelang ihr in den vergangenen 16 Jahren wie kaum einer zweiten Frau – von den 100 m und 200 m über die 400 m bis zu den Staffeleinsätzen über 4×100 m und 4×400 m. Irgendwann wusste die Olympionikin, wie man sich auf einen grossen Final vorbereitet.
Abrupt aus der Bahn geworfen
Anders verhält es sich mit dem Mutterwerden. Die im Training und Wettkampf erworbene Resilienz mag bei manchen Lebensaufgaben eine Hilfe sein. Doch die Schwangerschaft bleibt selbst für Hochleistungssportlerinnen eine Reise mit ungewissem Ausgang. Überdies tragen Frauen dunkler Hautfarbe ein fast viermal höheres Risiko, bei der Geburt zu sterben. In Felix’ Fall begann der Wettlauf gegen die Zeit in der 32. Schwangerschaftswoche – zwei Monate vor dem eigentlichen Termin. Ein Routinecheck ergab eine schwere Form der Präeklampsie (Schwangerschaftsvergiftung). Von einem Augenblick auf den anderen schwebten Mutter und Tochter in Lebensgefahr.
Per Notkaiserschnitt musste die kleine, nur 1560 Gramm leichte Camryn auf die Welt gebracht werden. Statt der verdienten Ehrenrunde mit den Eltern folgten vier bange Wochen auf der Neugeborenen-Intensivstation. Die Erfahrung hat Felix geprägt, ja sie wurde richtiggehend aus der Bahn geworfen. Sie, die «Miss Perfect», die stets alles geplant hatte, verlor die Kontrolle; sie, die ultrafitte «Superwoman», die nach der Wettkampfphase bereits an ihren postnatalen Wiederaufbau dachte, weil sie aufgrund der Mutterschaft massive finanzielle Einbussen seitens ihres damaligen Ausrüsters zu befürchten hatte.
Athletin UND Mutter
So beschloss die erfolgreichste, freilich stets um Diplomatie bemühte Vorzeigesprinterin, ihr langes Schweigen zu brechen und sich öffentlich zu Wort zu melden. Erst vor dem US-Kongress, um auf die Schwangerschaftsrisiken von schwarzen Frauen aufmerksam zu machen; dann in einem vielbeachteten Artikel der New York Times, in dem sie den fehlenden Mutterschaftsschutz von Profisportlerinnen anprangerte.
«Die meiste Zeit meines Lebens habe ich mich auf eine Sache konzentriert: Medaillen zu gewinnen. Und ich war gut darin», schrieb Felix in diesem Zusammenhang. Mit der Geburt ihrer Tochter habe sich ihr Fokus erweitert: «Ich wollte professionelle Athletin UND Mutter sein.» Dazu musste sie sich und das System ändern. Und das tat die Tochter eines Priesters und einer Lehrerin, indem sie ihre Stimme erhob und dafür viel Zuspruch erhielt. Nicht nur im Sport.
Vorbild(er) über den Sport hinaus
Allyson Felix bezeichnet sich als «äusserst kompetitive Person». Siege auf der Bahn – wie zuletzt bei den Weltklasse Zürich Inspiration Games über 150 m und mit der 3×100-m-Staffel – treiben sie noch immer an. Allein, ihre grösste Motivation schöpft sie inzwischen aus ihrer zweijährigen Tochter: «Sie ist der Grund, weshalb ich mich engagiere. Ihr möchte ich ein gutes Beispiel sein und den richtigen Weg zeigen.»
Rückblick: Nach ihrem Olympiatripple 1960 setzte sich Wilma Rudolph gegen die Rassentrennung in ihrem Heimatstaat Tennessee ein. Die «schwarze Gazelle» avancierte zu einem weiblichen Symbol für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Eine ähnliche Rolle übernimmt Allyson Felix heute als Wortführerin für die Rechte und Anliegen von Frauen und Müttern. «Die Mutterschaft half mir zu verstehen, dass es nicht nur um mich geht, sondern um die Welt, in der ich meine Tochter aufwachsen sehen will.» Es ist ihr Vermächtnis – neben all ihren Medaillen.